Die abenteuerliche Geschichte des Tobias-Haus

Manche Geschichten schlummern lange vor sich hin, geraten in Vergessenheit und werden plötzlich wiederentdeckt und veröffentlicht.

Die Geschichte vom Tobias-Haus ist so eine. Sie wurde jetzt gemeinsam vom Tobias-Haus-Architekten Jürgen Karsten und dem Journalisten Mark Kuntz  in einer spannenden Dokumentation veröffentlicht.

Vorwort

Von Jürgen Karsten

Häuser und besonders Altenheime entstehen nicht von allein. Es braucht Menschen, die den Bau ermöglichen, ihnen Gestalt geben und darüber wachen, wie sich in ihnen wohnen und leben lässt. Als Architekt durfte ich von Anfang an für das Projekt des Tobias-Hauses tätig sein. Nun, im Alter, bin ich schon einige Jahre sein Bewohner und erlebe täglich, dass die seinerzeitige Planung (Einweihung 1977) beweisen muss, ob es gelungen ist, einen Rahmen zu finden für die soziale Aufgabe, Menschen in ihrer späten Lebensphase beschützend, helfend und anregend aufzunehmen.

Den Bauplanungen ging das Engagement der Stifter, dem Ehepaar Grell voraus, mit ihrem erstaunlich vielseitig tätigen Leben und mit ihrer erklärten Absicht, die Erträgnisse daraus sozial wirksam werden zu lassen.

Hier wird nun der Versuch gemacht, sich in einen Abschnitt hamburgischer Heimatkunde hinein zu versetzen und die Brücke zu schlagen vom Schicksal der Familie Grell zum heutigen Tobias-Haus. Vom Baumwall in Hamburg bis zum Altenheim am Hagen in Ahrensburg.

Die vielen Einzelheiten und Gedanken zum Thema haben Mark Kuntz und ich in dieser Dokumentation zusammengetragen.

Chronik 01
Skizze vom Tobias-Haus - entworfen vom Architekten Jürgen Karsten

Kapitel 1

Ist es der Zufall, der unser Leben bestimmt oder die schicksalhafte Fügung, die alles auf geheimnisvolle Weise miteinander verbindet und vorbestimmt? Wir wissen es nicht.

Wir wissen nicht, ob Menschen, deren Lebenswege sich gekreuzt und zu einer gemeinsamen, erfüllten Biografie führten, sich zufällig getroffen haben oder ob höhere Mächte sie zueinander brachten.

Wir wissen nicht, ob es Zufall war, dass sich ein junger Mensch für eine Tätigkeit berufen fühlte oder Schicksal, dass sich seine Vision einmal mit der Vision anderer Menschen in einem großartigen gemeinsamen Projekt manifestieren würde.

Wir wissen es nicht.

Wir wissen aber, dass das Tobias-Haus nicht irgendein Alten- und Pflegeheim ist, sondern ein ganz besonderer Ort. Ein Ort, an dem Menschen ein neues Zuhause gefunden haben, nachdem sie ihr altes Zuhause aufgaben, oft schweren Herzens. Ein Ort, an dem Menschen arbeiten, für die ihre Tätigkeit viel mehr ist als nur ein Job. Ein Ort, an dem jeder Besucher gleich spürt, dass hier ein ganz besonderer Geist herrscht, ein guter Geist.

Chronik 02
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die wirtschaftliche Blütezeit des Hamburger Hafens. Um zur Arbeit zu kommen, mussten die Männer Ruderboote mieten und die Elbe vom Baumwall nach Grasbrook und Steinwärder überqueren.

Deshalb haben wir uns entschlossen, die Geschichte des Tobias-Haus so zu erzählen, dass jeder für sich entscheiden kann, ob es Zufall oder Schicksal war. Ob es Zufall war, dass der prosperierender Hamburger Hafen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bitter kalte Winter auf der Elbe, ein Familienzerwürfnis und ein junger Architekt, der wie viele Andere nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Suche nach Sinn und Glauben war, dazu führten, dass das Tobias-Haus entstehen konnte.

Denn es ist so, das die Geschichte des Tobias-Haus nicht erst mit der Einweihung im Jahr 1979 beginnt, sondern um 1850 im Hamburger Hafen, Am Baumwall, ein paar hundert Meter stadteinwärts von den Landungsbrücken, dort, wo heute das Verlagshaus von Gruner + Jahr steht.

Chronik 12
Johann Heinrich Grell mit seiner Frau Luise 1879. Der Kapitän und Unternehmer Grell vermietete zu Beginn seiner Karriere Ruderboote an Arbeiter im Hamburger Hafen.

Auf der anderen Seite der Elbe, im Grasbrook und in Steinwärder, entstanden zu dieser Zeit mehr und mehr Werften und Industriebetriebe. Wer dort arbeiten wollte, musste die Elbe überqueren, egal wie, egal bei welchem Wetter. Der Kapitän und Unternehmer Johann Heinrich Grell vermietete dafür Ruderboote an die Arbeiter. Die Überfahrt war bei schwerem Wetter mühsam und gefährlich. Immer wieder kenterten Boote bei Sturm und schwerem Seegang, immer wieder kamen Menschen ums Leben. Dem Kaufmann Grell hätte dies egal sein können, hart ist das Leben an der Küste, sagt man im Norden. Es war ihm aber nicht gleichgültig, und es ist auffällig, dass seine Lebensarbeit und die seines Sohnes Heinrich letzten Endes zu der Stiftung führten, die den Bau des Tobias-Hauses ermöglichte. In seinen Erinnerungen schreibt Johann Heinrich Grell:

„Ich ließ daher, obschon ich die ganz neu angeschafften Ruderboote mit gro- ßem Verlust verkaufen musste, im Jahr 1862 den Schraubendampfer erbauen.”

Unzufrieden mit der Manövrierfähigkeit und Sicherheit der ersten Dampfer entwickelte Grell zusammen mit dem Ingenieur Friedrich Ludwig Middendorf 1880 die „Süd-Hamburg”. Grell schrieb dazu 1890:
„Das Schiff hat bis heute von seinem guten Ruf, das beste Fährboot der Elbe zu sein, nichts eingebüßt, denn je mehr Menschen sich auf seinem Deck heraufdrängen, um so fester liegt es auf dem Wasser. Es kann mit Sicherheit 450 Personen über die Elbe fahren, wodurch andere Schiffe rank werden oder rollen, schwanken und zu kentern drohen. Dadurch wird dieses stabiler.”

Ein Problem für Arbeit, Handel und die Menschen im Hamburger Hafen blieb dennoch das Eis bei anhaltend starkem Frost. Bereits im Jahr 1855 war die Unterelbe für mehr als 60 Tage zugefroren. Man konnte damals von Blankenese bis Stade zu Fuß oder mit Kutschen die Elbe überqueren. Für viele Hamburger ein romantisches, unvergessliches Naturereignis. Für viele Hafenarbeiter aber ein lebensgefährliches Unterfangen, denn ganz gleich ob vom Ruderboot oder vom Dampfer aus mussten sie versuchen, mit Beilen, Äxten, Sägen oder Sprengstoff die Fahrrinne frei zu machen. Wer dabei einbrach, riskierte zu ertrinken oder zu erfrieren.

Das war in den klirrend kalten Wintern 1860/61 und 1870/71 besonders dramatisch. Neun Schiffe blieben auf der Elbe stecken – wie viele Menschen bei dem Versuch, die Fahrrinne frei zubekommen, ist nicht überliefert.

Überliefert ist aber, dass es in diesen Jahren eine Vielzahl von Ideen für Eisbrecher gab, vom schwimmenden Hammerwerk bis zu einem Schaufelradbagger, die aber allesamt vom Hamburger Senat wegen der hohen Anschaffungskosten verworfen wurden.

Als im Eis-Winter 1870/71 der Druck auf den Senat wuchs, endlich zu handeln, entschied man sich für einen Ausschreibungswettbewerb unter verschiedenen Schiffs-Ingenieuren.

Architekten und Ingenieuren sagt man gern nach, dass sie überwiegend technisch denken – sachlich, kühl, analytisch, nur der Funktionalität der Ergebnisse ihrer Konstruktionen verpflichtet. Aber dass hinter jeder Erfindung oder jeder Konstruktion oft auch eine zutiefst humanitäre Haltung steht, wird übersehen. Ohne die lebensgefährlichen Arbeitswege der Hamburger Hafenarbeiter während eiskalter Winter und Eisgang auf der Elbe und dem Motiv, etwas zu erschaffen, was das Leben dieser Menschen zumindest sicherer machen könnte, hätte es den Entwurf von Carl Ferdinand Steinhaus und Johann Heinrich Grell, der den Wettbewerb für einen Eisbrecher auf der Elbe schließlich gegen 23 Konkurrenten gewann, vermutlich nicht gegeben.

Doch davon später mehr. Zurück zum Eisbrecher, der zur Legende wurde. 

Chronik 33
Für die Arbeiter im Hamburger Hafen war die Überfahrt in Ruderbooten gefährlich. Grell baute mit dem Bremer Ingenieur Middendorf deshalb Schraubendampfer (Die „SüdHamburg”).
Chronik 34
Blick von Steinwärder auf Hamburg um 1850.
Chronik 22
Anzeige von Grells erster Fährlinie im Hamburger Hafen

Die Macht der Idee und die Entschlossenheit, sie in den Dienst des Menschen zu stellen – so entwickelten Carl Ferdinand Steinhaus und Johann Heinrich Grell 1880 den Entwurf eines eisernen Eisbrecherdampfers, der mit seinem Bug auf das Eis fährt und es durch sein Gewicht von oben rammend zerbricht. Steinhaus schreibt:

„Der Kiel bildet mit dem Vordersteven eine leicht aufsteigende, einer Parabel ähnliche Kurve; diese Form hat den Zweck, es dem Schiff zu ermöglichen, wenn es mit voller Kraft gegen feste Eismassen fährt, sich bis zu einem gewissen Teil seiner Länge auf das Eis hinauf zu schieben, um ein Durchbrechen derselben um so sicherer zu veranlassen.”

Ein großer Visionär und ein großer Ingenieur: Werden diese beiden die Geschicke des Hamburger Hafens bestimmen, werden die beiden vielleicht die Geschicke des deutschen Transportwesens und die Arbeitsbedingungen der Menschen gestalten?

Nein. Schon lange vor der Globalisierung gab es wirtschaftliche Konglomerate, die stärker waren als geniale Individuen. In Hamburg war es die HADAG (Hafendampf-Schifffahrtsgesellschaft), einem Zusammenschluss aus Kaufleuten, Wertbesitzern und Industriellen. Als sich Grell und seine vier Fähr-Konkurrenten nicht auf einen gemeinsamen Fahrplan einigen können, übernimmt die HADAG Grells neun Fährschiffe und findet ihn am 23.1.1889 mit 250.000 Goldmark ab. Das Fährschiff „Süd-Hamburg” hat alle übrigen Schiffe überdauert, wurde von einem Bremer Reeder erworben und fährt heute noch – nach einigen Umbauten – unter dem Namen „Friedrich” in der Nordsee vor Bremen und Bremerhafen,

Grell lässt sich in seinen Brillantring eingravieren: „Im Jahr 1859 habe ich die Fähre eröffnet. 1889 davon vertrieben.”

„Davon vertrieben.” Zwei Worte, die ahnen lassen, welchen Schmerz die Übernahme und die Abfindung in ihm ausgelöst haben müssen.

Um nach einem großen Verlust etwas Neues zu beginnen, braucht es neben der Vision von etwas Schönem und Guten auch die innere Stärke, nicht mit der Vergangenheit zu hadern hängen, sondern die Kraft und Zuversicht, dass Neues gelingen kann.

Johann Heinrich Grell hatte die Vision, die Zuversicht und die Kraft. Und wenn man heute vor dem Tobias-Haus steht, spürt man auch etwas von Kraft und Zuversicht. Man spürt, dass hier etwas für die Menschen erschaffen wurde. Damit es ihnen gut geht. Zufall?

Nun musste Johann Heinrich Grell noch einmal ganz vorn anfangen. Das wird ihm vermutlich nicht leicht gefallen sein. Wer sich in seinen Brillantring den Eintrag „1889 davon vertrieben” gravieren lässt, leistet vermutlich etwas Trauerarbeit, die dokumentiert, dass in einem Unternehmen nicht nur Geschäftssinn und Profit steckt, sondern auch eine persönliche Leidenschaft und eine Liebe zu den Menschen, die für dieses Unternehmen arbeiten.

Chronik 38
Grells Dampffähren hatten bei Eis auf der Elbe erhebliche Probleme. Der 1871 neu konstruierte Eisbrecher „Eisfuchs” machte mit seinem eigenen Gewicht die Fahrrinne frei und gilt bis heute als Prototyp des modernen Eisbrechers.

Den Neuanfang beschritt Johann Heinrich Grell mit dem jüngeren seiner beiden Söhne, Heinrich, der beim Verkauf der Fährlinie 25 Jahre alt war. Die beiden gründeten 1889 das „Equipagen- und Fuhrgeschäft” in der ABC-Straße 44 – 48, in der Nähe von Jungfernstieg und Gänsemarkt. Anfangs wurden gut ausgestattete Kutschen samt Kutscher vermietet, bald führte der technologische Wandel zu einem Garagenbetrieb für Automobile. Das Haus und den Fuhrbetrieb finanzierten Vater und Sohn mit der Abfindung. Heinrich heiratete im selben Jahr seine Frau Caroline, mit der er vier Kinder hatte: Franz, Grete, Hans und Heinrich.

Chronik 36
Frühes Werbeplakat vom Neustart des Grell-Unternehmens als „Equipagen-Fuhrwesens.”
Chronik 37
Heinrich Grell
Chronik 03
Heinrich Grell's zweite Frau Mathilde.

Sein Vater Johann Heinrich starb neun Jahre später, 1898. Seine Frau Caroline starb 1913 viel zu jung mit 46 Jahren. Sechs Jahre später heiratete Heinrich Grell seine zweite Frau Mathilde.

Über die Zeit bis zu seinem Tod 1943 ist wenig bekannt – außer einem, offenbar dramatischen und schmerzhaften Zerwürfnis zwischen ihm und seinen beiden Söhnen Hans und Heinrich.

Chronik 35
Von Ruderbooten im Hafen über Equipagen bis hin zu einem Garagenbetrieb in der ABC-Straße: Der Grundstein der Grell-Stiftung.

Kapitel 2

Ein Sohn, der das Erbe seines Vaters durch zwei Weltkriege führt, Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Hunger und Elend übersteht, der am Ende sein Unternehmen nicht an die nächste Generation weitergeben kann, weil er sich von seinen Söhnen ungeliebt und ausgenutzt fühlt, der sein Lebenswerk und das seines Vaters in eine Stiftung überführen möchte, die sich um alte Menschen kümmern soll – wie kommt nun diese Stiftung von Hamburg in die Siedlung am Hagen?

In Familienunternehmen ist die Verstrickung zwischen wirtschaftlichen und emotionalen Beziehungen oft schwierig. Für die Gründer ist es einerseits ein Herzenswunsch, das Unternehmen an seine Kinder weiterzugeben, andererseits ist es schwer, zuzusehen, wie die nächste Generation das eigene Lebenswerk nach eigenen Ideen umgestaltet. Soll man sich heraushalten oder einmischen? Und: Gibt es vielleicht ein Lieblingskind, von dem man sich wünscht, es möge die Geschicke der Firma weiterführen? Was, wenn dieses Lieblingskind ganz andere, eigene Wege geht? Und was,

wenn das Kind, dass sich bereit erklärt, den Betrieb mit- und weiterzuführen vielleicht nur zweite Wahl ist? Heinrich blieb mit seinem Vater im Unternehmen, dem Equipagen- und späteren Garagen-Betrieb in der ABC-Straße. Heinrichs älterer Bruder Paul-Wilhelm hatte kein Interesse an dem Fuhrunternehmen und ging seine eigenen Wege. Er wurde zwar zunächst auch Kaufmann, besaß eine Brauerei, reiste dann aber viel, hatte Kontakte zu vielen Künstlern und kaufte 1893 einen „Concert-Saal” am Steindamm. Ein Jahr später eröffnete er das Haus unter dem bis heute bekannten Namen „Hansa-Theater.”

Auf seine beiden Söhne Heinrich und Hans muss Heinrich Grell große Hoffnungen gelegt haben, dass sie das Unternehmen nach seinem Tod einmal weiterführen würden. Eine Erwartung, die aus Sicht von Heinrich Grell offenbar bitter enttäuscht wurde. Anders ist es nicht zu erklären, dass er 1941, zwei Jahre vor seinem Tod in seinem Testament schreibt:

„Nach meiner Erfahrung und Überzeugung ist keiner meiner Erben, ebenso wenig wie die auf den Pflichtteil gesetzten Söhne imstande, den im Grundstück ABC-Straße bestehenden Garagenbetrieb selbst zu führen sowie die Grundstücke und meinen Nachlass ordnungsgemäß zu verwalten… Meine Söhne Hans Grell und Heinrich Grell werden grundsätzlich auf den Pflichtteil gesetzt… Ich habe dies nach reiflicher Überlegung getan, da meine beiden Söhne Hans und Heinrich ihrem Vater gegenüber nur Rechte und Ansprüche aber keine Pflichten kannten und niemals Sohnesliebe gezeigt haben.”

Ein paar Absätze später überwiegt dann aber offenbar doch die väterliche Liebe und Grell verfügt:

,, …aus väterlicher Fürsorge bestimme ich, dass meinen Söhnen Hans und Heinrich Grell… für ihre Person von den Gesamterträgnissen des von meinen Testamentsvollstreckern verwalteten Nachlässen auch der ihnen infolge der Pflichtteilbestimmung entzogene halbe Erbteil, also weitere je 3/32 zukommen soll, unter Einschränkung als persönliche Nutznießung solange sie leben”.

Wir wissen nichts über die schwierige Beziehung zwischen Heinrich Grell und seinen beiden Söhnen. Wir urteilen auch nicht, es steht uns nicht zu. Wir können nur aus dem erweiterten Testament aus dem Jahr 1942 zitieren, einer Zeit, in dem sich das Zerwürfnis zwischen ihm und seinen Söhnen offenbar weiter vertieft hat, wie sonst hätte er dem Testament vom August 1941 im Februar 1942 diese Ergänzung hinzugefügt:

„Ich ändere hiermit meine Verfügung in Mein letzter Wille vom 14. August 1941 dahin ab, dass meine beiden Söhne Hans und Heinrich nunmehr entgegen den in den Absätzen 6 und 7 Abs. 3 zugestandenen resp. angeführten Nutznießung während ihrer Lebenszeit nunmehr ohne irgendwelche Vergünstigungen nur den reinen Pflichtteil erhalten sollen.”

Am 18. April 1943 stirbt Heinrich Grell. Seine zweite Frau Mathilde erbt die Verantwortung, den letzten Willen ihres Mannes, das Immobilienvermögen in der ABC-Stra- ße der Stadt Hamburg zu verkaufen und in eine Stiftung zu überführen, der „Heinrich und Mathilde Grell Stiftung”.

Chronik 05
Der Schafstall vor Renovierung und Umbau
Chronik 06
Der Schafstall nach anderthalb Jahren Renovierung und Umbau

Einen Monat vorher wird der 18jährige Hamburger Jürgen Karsten, der später einmal das Tobias-Haus planen und erbauen soll, in den Krieg eingezogen. Zunächst kommt er in den Arbeitsdienst nach Turek bei Kalisch in Polen. In seiner Familien-Chronik schreibt Jürgen Karsten:

„…in Litzmannstadt führte die Straße direkt durch das eingezäunte Getto für die jüdische Bevölkerung, dessen Schmutz und Ärmlichkeit keiner Erläuterung bedurften. Abgemagerte Gestalten fegten Abwasser durch die Gosse links und rechts von unserer vergitterten Straße, die Schaufenster waren leer oder zeigten nur Trödel, Soldaten bewachten diesen kummervollen Zustand.”

Als der Krieg vorbei ist müssen die Menschen in Deutschland ihr Leben neu ordnen. Viele sind erleichtert, dass die Schuldigen in den Nürnberger Prozessen benannt und verurteilt wurden, sind erleichtert, als ihnen im Zuge der Entnazifizierung ein „Persil-Schein” ausgestellt wird, die „Stunde Null” ausgerufen wird und alle Kraft und Energie im Sinne des Marshall-Plans dem Wiederaufbau unterstellt wird.

Andere Menschen, vor allem sehr junge, sehen nach dem Krieg zunächst ratlos in die Zukunft. Jürgen Karsten war einer von ihnen. Er schreibt dazu in seiner Familienchronik:

„Nun kam eine Zeit der bitteren Ungewissheit und ein unübersehbarer Einschnitt im Schicksalsbild. Alle bisherigen Maßstäbe und Festpunkte waren ungültig geworden oder ins Wanken gekommen. Vaterland und Obrigkeit hatten ihren Wert verloren, es wehte keine Fahne mehr, das Feindbild war abhanden gekommen, die von den Nazis gepäppelten oder auch gepflegten Kulturbegriffe mit dem nordischen Menschentyp und der Herrenrasse zeigten ihre Plumpheit, die Nachrichten über die Gräuel der Judenverfolgung kamen langsam und immer bitterer ans Licht, für Kultur und Religion hatte ich selber nichts Tragendes in mir festzustellen. Um so mehr begann eine Suche nach allen Seiten und bestand eine große Skepsis gegenüber allem, was mir dabei begegnete. Sämtliche Bindungen an eine Partei waren mir suspekt geworden und ließen mich auch später daran festhalten.”

Grete und Hanna Grell leben jetzt in einem Haus in Lokstedt, die Zweckerfüllung der Stiftung steht noch aus, Grete und Hanna sind Mitglieder der Christengemeinschaft und der anthroposophischen Gesellschaft.

Und hier überschneiden sich die Lebenskreise der Grells und von Jürgen Karsten zum ersten Mal, auch wenn es noch lange zu keiner Begegnung kommt. Bald nach Kriegsende findet Jürgen Karsten bei der Christengemeinschaft eine neue religiöse und spirituelle Heimat. Vor allem die Treffen mit den jungen Leuten haben es ihm angetan. Hier erleben alle ein neues Gefühl von Gemeinschaft, und alle finden, diese Treffen bräuchten einen besonderen Ort, der ihren Zusammenkünften ein besonderes Zuhause geben könnte.

Die jungen Leute fahren die Umgebung von Hamburg auf und ab und finden einen völlig heruntergekommenen und baufälligen Schafstall, sprechen mit dem Bauern und bekommen die Gelegenheit, die Ruine zu restaurieren. Der Bauer erklärt sich bereit, die Baustoffe zu finanzieren, die Gruppe der Christengemeinschaft baut anderthalb Jahre den Schafstall zu einer Begegnungsstätte aus, die bis heute Bestand hat und genutzt wird.

Jürgen Karsten erlebt, dass Architektur mehr ist, als Mauern und ein Dach zu bauen, sondern dass Architektur Sinn stiften, einen Ort der Begegnung und ein Zuhause für Menschen schaffen kann – er hat seine Bestimmung gefunden.

Architektonisch hat das Schafstall-Projekt nichts mit seinem weiteren Werdegang zu tun. Allerdings, so sagt er heute, habe ihm diese Arbeit gezeigt, dass eine kreative, spirituelle Freiheit, eine „Beweglichkeit”,

wie er es nennt, Voraussetzung dafür ist, Projekte neu und anders zu gestalten – immer mit dem Menschen im Mittelpunkt. In vielen Bau-Projekten wie Waldorfschulen, Altersheimen oder einer Kirche für die Christengemeinschaft wird er dieser Bestimmung nachkommen. Bis das Schicksal ihn mit der Grell-Stiftung verbindet. Der Beginn eines gewaltigen Projekts, an dessen Ende das Tobias-Haus stehen wird.

Chronik 04
Mittagspause in fröhlicher Runde: Jede freie Minute verbringen Jürgen Karsten und seine Freunde von der Christengemeinschaft beim Schafstall.

Nach dem Tod von Heinrich Grell zieht seine Tochter Grete mit ihrer Stiefmutter Mathilde und ihrer Cousine Hanna in ein Stadthaus in Hamburg-Lokstedt ein.

Als Mathilde Grell 1956 stirbt, muss ihre Tochter Grete jetzt die Stiftung ihrer Bestimmung zuführen. Aber sie weiß nicht, wie. Sie braucht Hilfe. Ihre beiden Vertrauenspersonen sind ein Arzt und ein Pastor der Christengemeinschaft, Harro Rückner. Der hat Kontakt zu einem anderen Pastor der Christengemeinschaft, Klaus Raschen.

Und hier schließen sich auf wundersame Weise biografische Kreise. Denn der Vertrauensmann von Grete Grell, der Pastor der Christengemeinschaft, Harro Rückner, kennt den Pastor Raschen, der mit Jürgen Karsten gerade die neue Kirche der Christengemeinschaft in Volksdorf baut, und jetzt, 1969, nach gut 120 Jahren, nachdem die ersten Ruderboote von Johann Heinrich Grell vom Baumwall über die Elbe Richtung Grasbrook und Steinwärder ablegten, kreuzen sich endlich die Lebenswege von Grell und Karsten, und das Projekt Tobias-Haus kann beginnen.

Nachdem zunächst, wie im Testament verfügt, auf Hamburger Grund und Boden nach einem Gelände für die Verwirklichung der Stiftung gesucht wurde, ergab sich der Plan, sich in Ahrensfelde bei Hamburg an einem großen Projekt zu beteiligen:

Geplant war ursprünglich ein anthroposophisches Gemeinschaftskrankenhaus, eine heilpädagogische Kinderstätte und ein Altenheim – mit zentralen Versorgungseinheiten wie Küche und Wäscherei.

Jürgen Karsten hatte bereits einen Teil der Planung dieses Groß-Projekts abgeschlossen, als es plötzlich hieß, dass die Mittel nicht ausreichen würden – ein Alten- und Pflegeheim würde aber möglich sein. Zuhause für alte Menschen werden.

Wie plant man nun eigentlich so ein Haus, das ja viel mehr als ein Gebäude werden sollte? „Altenheime waren zu dieser Zeit, Mitte der siebziger Jahre, ziemlich trostlose Verwahranstalten”, erinnert sich Jürgen Karsten. „Als ich den Auftrag von der Grell-Stiftung bekam, habe ich nicht versucht, „anthroposophische” Architektur umzusetzen, sondern etwas zu erbauen, was Menschen, die ihr Zuhause aufgeben mussten, ein neues Zuhause zu erschaffen – lebendig und individuell.”

Chronik 07
Luftansicht vom Tobias-Haus: Unregelmäßige Winkel und Ebenen schaffen Lebendigkeit und Neugier auf ein einzigartiges Wohnprojekt.
Chronik 14
Der alte Speisesaal im Tobias-Haus, der so gar nichts von einem Krankenhaus hat, sondern eher an ein Designer-Hotel oder einen Verlag erinnert. Wichtige architektonische Elemente: Die Teil-Abhängung und die Verkofferungen an der Decke.

Wie das geht, zeigt Jürgen Karsten an einer kleinen, quaderförmigen Holzkiste, die vor ihm auf den Tisch liegt. Er zeigt auf eine Ecke der Kiste und sagt:

„Stellen Sie sich vor, diese Kiste ist ein Gebäude, Sie stehen an einem beliebigen Punkt und Sie wissen genau, wie das Gebäude rundherum aussieht. Das ist kein lebendiges Gebäude. Wenn Sie vor dem Tobias-Haus stehen, egal an welchem Punkt, wissen Sie nicht, wie das Große und Ganze aussieht. Sie müssen herumgehen, es ansehen, hineingehen, es erleben. Das ist lebendig, das wollte ich bauen.”

Und tatsächlich ist es so, dass, wenn man heute vor dem Tobias-Haus steht, den Wunsch hat, das Gebäude und das Gelände aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven zu sehen und zu erfahren.

Es ist ein mächtiges, ein beeindruckendes Gebäude, aber keines, dass einen erschlägt, es lädt seine Besucher ein. Es ist ein ganz besonderes Gebäude, aber es lässt einen nicht in Ehrfurcht erstarren. Wenn man es, die vielen Gärten durchwandernd ansieht, erschließt sich einem die Lebendigkeit des Hauses. Es ist tatsächlich das Gegenteil von dem Holz-Quader auf dem Tisch von Jürgen Karsten, es ist asymmetrisch, hat wenig rechte Winkel, dort, wo herkömmliche Gebäude wie Krankenhäuser oder Wohnblöcke welche haben. Das Tobias-Haus in seiner ursprünglichen Form ist konzipiert mit einem großen Wohntrakt, zwei Pflegestationen und einem großzügigen, mit einer spektakulären Wendeltreppe und einer großartigen Lampeninstallation gestalteten Eingangsbereich, der Wohn- und Pflegeabteilung miteinander verbindet.

Wer das Tobias-Haus zum ersten Mal betritt, bleibt wahrscheinlich einen Augenblick vor dem Haupteingang stehen, lässt das Gebäude auf sich wirken, staunt und sieht dann auf das ergreifende Mosaik über der Eingangstür. 

Chronik 09
Es ist vollbracht: Architekt Jürgen Karsten 1977 vor dem gerade fertig gestellten TobiasHaus. Auf dem Brachland davor blüht heute ein zauberhaft schöner Park.
Chronik 10
Mission erfüllt, der Kreis hat sich geschlossen: Hanna (links) und Grete Grell (rechts) 1977 bei der Einweihung des Tobias-Hauses.
Chronik 08
Grete Grell hatte per Testament den Auftrag bekommen, die Grell-Stiftung ihrer Bestimmung zu überführen. Es ist gut geworden, es hat sich gelohnt.

Grundstein-Spruch

Für das Tobias-Haus
30.April 1975

Es hängt das Heil der sozialen Entwicklung der Menschheit in der Gegenwart und in der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft davon ab, ob es Menschengruppen gelingt, echte Gemeinschaft in einem neuen, die Freiheit und Geistigkeit des Menschen achtenden Stil zu verwirklichen.

Tobias ist eine Figur aus dem Alten Testament mit einer abenteuerlichen Lebensgeschichte. Sie spielt um 800 vor Christi Geburt. Der Vater des Tobias wird mit seiner Familie und seinem Volk aus seiner Heimat in Nord-Israel vertrieben und muss sein Leben in einem fremden Land unter einer fremden Herrschaft fristen: in der Stadt Ninive im heutigen Irak. Doch er zürnt und hadert nicht, er bleibt seinem Gottvertrauen treu, hilft, wo er kann, gibt den Armen alles, was er hat. „Die Hungrigen speiste er, die Nackten kleidete er, die Erschlagenen und Toten begrub er.” Seinen heimlichen Schatz, zehn Pfund Silber, lieh er einem besonders Bedürftigen, bevor er erneut vertrieben wurde. Als er sein Augenlicht verliert, trägt er seinem Sohn auf, sich einen Gefährten zu suchen, mit dem das Geld wieder heimholen soll. Da Gott die Treue des Vaters erkennt, sendet er seinem Sohn einen verlässlichen Begleiter, Raphael, einen der sieben Erzengel in Menschengestalt. An seiner Seite macht sich der junge Tobias auf seine Mission, gewinnt einen mörderischen Kampf mit einem Fisch, extrahiert aus dessen Eingeweiden zaubrische Elixiere, mit denen er zunächst die bösen Geister vertreibt, die seine zukünftige Frau umgeben und mit denen er bei seiner Heimkehr seinen Vater heilt und ihm sein Augenlicht zurück schenkt. Alle Familien, die des alten, die des jungen Tobias und auch die seiner Schwiegereltern leben fürderhin in Glück, Wohlstand und Seelenfrieden. Und kümmern sich um die Alten, Schwachen und Bedürftigen.

Eine abenteuerliche Geschichte, wie gesagt, eine Geschichte vom Helfen, Heilen, vom Trösten und von der erfüllten Hoffnung, Erlösung vom Leid zu finden.

So viel kommt in dieser Geschichte des Tobias zusammen: Das Leben, das Schicksal, die Nächstenliebe und am Ende Frieden für die Seele.

Das ist die Botschaft für alle, die hier ein neues Zuhause gesucht und gefunden haben, für alle, die hier sinnstiftend arbeiten wollen.

Das Tobias-Mosaik signalisiert dies schon, auch wenn man die Geschichte dahinter nicht kennt, auch wenn man kein religiöser Mensch ist. Es zeigt Demut und Dankbarkeit, Zuversicht und Vertrauen. Es zeigt, dass dieses Haus eine Seele hat. 

Chronik 13
Chronik 11
Tobias ist eine Figur aus dem Alten Testament, dessen abenteuerliche Lebensgeschichte in der Heilung seines erblindeten Vaters und der Unterstützung Hilfebedürftiger seine Erfüllung findet.

Es wurde von Walter Roggenkamp entworfen, mit dem Jürgen Karsten schon für die innere und äußere künstlerische Gestaltung beim Bau der Lukas-Kirche in Volksdorf zusammengearbeitet hatte.

Roggenkamp entwarf nicht nur das Mosaik, sondern auch die Deckengestaltungen im Treppenhaus und im Saal, die Glasfenster in der Kapelle und im langen Verbindungsflur, die farbige Verglasung und Deckengestaltung im Aufbahrungsraum, den Flügelaltar im Saal, einige der Flurleuchten und die Bronzetafel am Eingang.

Man hält heute vieles für selbstverständlich, was früher einmal revolutionär war. Früher waren Altenheime zumeist trostlose Verwahranstalten im Krankenhaus-Stil, zum Teil mit Vier- bis Sechsbettenzimmern.

Im Tobias-Haus wird man nach dem Mosaik mit einer spektakulären Wendeltreppe empfangen, mit Licht-Installationen, die man eher in einem Museum für modernes Design erwarten würde.

Chronik 16
Das Treppenhaus im Eingangsbereich des Tobias-Haus
Chronik 17
Blick von oben ins Treppenhaus. Die Gestänge-Konstruktion strahlt gleichzeitig Stabilität und Leichtigkeit aus.
Chronik 15
Die sechseckigen, im oberen Drittel leicht abgenickten Lampen sind feinstes Design, spenden aber auch Trost und Wärme.

Bis ins Detail wurde das Tobias-Haus so geplant und gebaut, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Ein Mensch, der nicht immer freiwillig sein Zuhause verlassen muss, und der um so mehr darauf angewiesen ist, eine Umgebung zu finden, in dem er sich so schnell wie möglich zuhause fühlen kann. Dabei spielen die Menschen, die sich jetzt um sie kümmern, eine zentrale Rolle. Beide – die neuen Bewohner und die Menschen, die sich kümmern – können nur in Einklang miteinander sein, wenn die Umgebung sie dabei unterstützt. Und das zeigt wieder einmal, dass Architektur sehr viel mehr ist, als sauber verbaute Steine. Die Flure wurden mehreckig und extrem großzügig gehalten. Jedes Zimmer und jede Wohnung hat ein eigenes Namensschild an der Tür, mit viel Platz für eigene Möbel und persönliche Gegenstände. Und ganz wichtig, weil das Tobias-Haus mitten in der Natur liegt: Wo immer es ging, wurden die Wohnungen mit einem eigenem Balkon ausgestattet.

Auf den Pflegestationen wurde der freie Blick auf die Natur mit zwei großzügigen, überdachten Loggias ermöglicht, wo auch bettlägerige Bewohner bei schönem Wetter für einige Stunden am Tag den Einklang mit der Natur, die sie umgibt, erleben und genießen konnten.

Und: Hanna und Grete Grell legten bei der Planung als Mitglieder der Christengemeinschaft Wert darauf, dass dem Kultus ein eigener Altarraum und auch ein Aufbahrungsraum zugeordnet und gestaltet wurde. Diesem Wunsch wurde entsprochen, und auch diese Räume wurden durch die wunderbaren Glas-Installationen von Walter Roggenkamp zu Orten der Ruhe, des Friedens und der Spiritualität.

Chronik 18
Leben im Einklang mit der Natur und den Farben: Der Künstler Walter Roggenkamp schuf nicht nur das Mosaik über dem Haupteingang, sondern auch faszinierende Glas-Installationen. Hier im Verbindungsflur zwischen zwei Gebäudetrakten.
Chronik 19
Glasfenster im Altarraum
Chronik 20
Ein magischer Augenblick in der Kapelle des Tobias-Hauses: Sonnenlicht reflektiert die Farben:des Glasfensters auf die Altardecke und den Boden.

Viel ist seitdem hinzugekommen: Es wurde neue Stockwerke angebaut, die Trennung zwischen Pflege- und Wohnheimbereich wurde aufgehoben. Der Garten gedieh über die Jahre zu einem prächtigen Park, ein Teil wurde für die dementen Bewohner zu einer geschützten Zone ausgebaut, in der sie sich sicher und autonom bewegen und die Schätze der Natur mit allen Sinnen genießen können.

Dass an so einem Ort mit so einer besonderen Geschichte nicht nur ganz besondere Menschen leben, sondern auch ganz besondere Menschen arbeiten, versteht sich von selbst.

Auch wenn die Arbeit härter geworden ist, auch wenn viele Menschen, die dort leben, manchmal hadern: Es bleibt ein Ort, der sich von allen anderen unterscheidet. Es ist ein Ort, der in seiner langen Geschichte entstanden ist, um Menschen Gutes zu tun, Menschen, die in dem letzten Abschnitt ihres Lebens ganz besonders darauf angewiesen sind.

Und wo kann das besser gelingen, als an einem Ort wie dem Tobias-Haus, mit Menschen, die dort arbeiten, um Sinn zu stiften, zu trösteten und zu heilen.

Wie der Tobias im Alten Testament.

Die Grell-Stiftung hatte eine Bestimmung, eine Vision, die von vielen wundervollen Menschen realisiert wurde:

Der Mensch steht im Mittelpunkt, mit allem, was ihn ausmacht: Seinem Leben im Einklang mit der Natur, den Farben, der Gestalt, den Formen, der Bewegung, dem Schicksal, dem Zweifel, dem Glauben, der Liebe und dem großen Geheimnis, das all dies auf so wundersame Weise miteinander verbindet.

Vom Hafen in den Hagen:
Es ist gut geworden, es hat sich gelohnt.

Nachwort

Von Mark Kuntz

Zufall oder Schicksal? Mein erster Kontakt mit dem Tobias-Haus muss 1978 gewesen sein. Ich war damals 16 Jahre alt und trug morgens vor der Schule Zeitungen aus. In zwei aufeinander folgenden Jahren gab es bitter kalte Winter mit meterhohen Schneeverwehungen und Frösten bis zu minus 15 Grad – ob diese Winter so kalt waren, wie auf der Elbe 1860/1961 und 1871? Ich konnte mich damals eine Dreiviertelstunde mit warmen Stiefeln und dicken Handschuhen gegen die Kälte schützen. Als ich – ungefähr zehn Minuten vor Ende meiner Tour – den Eingang des Tobias-Haus erreichte und mit starren Fingern die sechs Abo-Exemplare in die Postfächer steckte, blieb ich noch ein paar Minuten im Eingangs stehen und schob meine Füße von unten und meine Hände von oben in die Heizkörper. Das war meine Rettung!

Ein paar Jahre später – damals gab es noch eine „Gewissensprüfung” wenn man den Kriegsdienst verweigern wollte – bestand ich diese „Prüfung” mit dem entscheidenden Argument:

„Ich habe mich bereits um eine Stelle in der Pflegestation des Tobias-Haus beworben und eine Zusage bekommen.”

15 Monate später, nach Früh- und Spätdiensten und Nachtschichten war ich nicht mehr derselbe Mensch. Die Begegnung mit Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, als jemand, der gerade am Anfang dieses Lebens stand, hat mich tief bewegt.

37 Jahre später klopfe ich an die Tür von Jürgen Karsten, dem Architekten des Tobias-Haus, der eine Dokumentation erstellen will, wie aus der GrellStiftung diese wunderbare neue Heimat für alte Menschen wurde. Für mich eine ganz besondere Begegnung.

Die Grell-Stiftung hat ihren Ursprung in Hamburg, am Baumwall, dort, wo ich wo ich in einem großen Verlagshaus zehn Jahre lang die schönste Zeit meines Berufslebens erleben durfte. Neben meiner Zeit als Zivildienstleistender im Tobias-Haus natürlich.

Wieder nur Zufall oder doch Schicksal?

Ich bin kein religiöser Menschen, ich bin auch kein Anthroposoph, aber ich bin ein spiritueller Mensch: Wenn ich heute vor dem Tobias-Haus stehe und in den Trakt rechts vom Haupteingang sehe, in den zweiten Stock, dort, wo früher „meine Pflege 2” war, kehre ich in Gedanken in meine Früh-, Spät- und vor allem in meine Nachtschichten, die ich so geliebt habe, zurück, und kann mich noch an jeden Bewohner und jede Bewohnerin mit Namen, Gesicht und Wesenszügen erinnern, so wie man in einem Fotoalbum blättert. Die Geister dieser schon lange verstorbenen Menschen sind präsent und ebenso die Beziehung, die ich in dieser Zeit zu ihnen hatte.

An einem ganz besonderen Ort.

P.S.: Mein Dank gilt der großartigen Art Direktorin Kristin Pötschke, die aus dieser Dokumentation etwas ganz Besonderes gemacht hat. Mit so viel Liebe und Leidenschaft, als wäre es nicht meine Herzensangelegenheit gewesen, sondern ihre eigene.

Am Ende: Liebe und Dankbarkeit

Den letzten Abschnitt widmen wir all den wundervollen Menschen, die jetzt im Tobias-Haus leben, früher lebten und in Zukunft noch leben werden. Und die uns allen, die wir im Tobias-Haus gearbeitet haben, arbeiten und in Zukunft noch arbeiten werden, so viel zu geben haben.

Chronik 23
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Chronik 30
Chronik 31
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Chronik 27
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Chronik 28
Chronik 32

Herausgeber: Mathilde und Heinrich Grell-Stiftung
Text und Konzept: Jürgen Karsten mit Mark Kuntz
Art Directorin: Kristin Pötschke
Fotos: Jürgen Karsten, Streit, Dagmar Bily
Druck: Flyeralarm Hamburg