Einen Monat vorher wird der 18jährige Hamburger Jürgen Karsten, der später einmal das Tobias-Haus planen und erbauen soll, in den Krieg eingezogen. Zunächst kommt er in den Arbeitsdienst nach Turek bei Kalisch in Polen. In seiner Familien-Chronik schreibt Jürgen Karsten:
„…in Litzmannstadt führte die Straße direkt durch das eingezäunte Getto für die jüdische Bevölkerung, dessen Schmutz und Ärmlichkeit keiner Erläuterung bedurften. Abgemagerte Gestalten fegten Abwasser durch die Gosse links und rechts von unserer vergitterten Straße, die Schaufenster waren leer oder zeigten nur Trödel, Soldaten bewachten diesen kummervollen Zustand.”
Als der Krieg vorbei ist müssen die Menschen in Deutschland ihr Leben neu ordnen. Viele sind erleichtert, dass die Schuldigen in den Nürnberger Prozessen benannt und verurteilt wurden, sind erleichtert, als ihnen im Zuge der Entnazifizierung ein „Persil-Schein” ausgestellt wird, die „Stunde Null” ausgerufen wird und alle Kraft und Energie im Sinne des Marshall-Plans dem Wiederaufbau unterstellt wird.
Andere Menschen, vor allem sehr junge, sehen nach dem Krieg zunächst ratlos in die Zukunft. Jürgen Karsten war einer von ihnen. Er schreibt dazu in seiner Familienchronik:
„Nun kam eine Zeit der bitteren Ungewissheit und ein unübersehbarer Einschnitt im Schicksalsbild. Alle bisherigen Maßstäbe und Festpunkte waren ungültig geworden oder ins Wanken gekommen. Vaterland und Obrigkeit hatten ihren Wert verloren, es wehte keine Fahne mehr, das Feindbild war abhanden gekommen, die von den Nazis gepäppelten oder auch gepflegten Kulturbegriffe mit dem nordischen Menschentyp und der Herrenrasse zeigten ihre Plumpheit, die Nachrichten über die Gräuel der Judenverfolgung kamen langsam und immer bitterer ans Licht, für Kultur und Religion hatte ich selber nichts Tragendes in mir festzustellen. Um so mehr begann eine Suche nach allen Seiten und bestand eine große Skepsis gegenüber allem, was mir dabei begegnete. Sämtliche Bindungen an eine Partei waren mir suspekt geworden und ließen mich auch später daran festhalten.”
Grete und Hanna Grell leben jetzt in einem Haus in Lokstedt, die Zweckerfüllung der Stiftung steht noch aus, Grete und Hanna sind Mitglieder der Christengemeinschaft und der anthroposophischen Gesellschaft.
Und hier überschneiden sich die Lebenskreise der Grells und von Jürgen Karsten zum ersten Mal, auch wenn es noch lange zu keiner Begegnung kommt. Bald nach Kriegsende findet Jürgen Karsten bei der Christengemeinschaft eine neue religiöse und spirituelle Heimat. Vor allem die Treffen mit den jungen Leuten haben es ihm angetan. Hier erleben alle ein neues Gefühl von Gemeinschaft, und alle finden, diese Treffen bräuchten einen besonderen Ort, der ihren Zusammenkünften ein besonderes Zuhause geben könnte.
Die jungen Leute fahren die Umgebung von Hamburg auf und ab und finden einen völlig heruntergekommenen und baufälligen Schafstall, sprechen mit dem Bauern und bekommen die Gelegenheit, die Ruine zu restaurieren. Der Bauer erklärt sich bereit, die Baustoffe zu finanzieren, die Gruppe der Christengemeinschaft baut anderthalb Jahre den Schafstall zu einer Begegnungsstätte aus, die bis heute Bestand hat und genutzt wird.
Jürgen Karsten erlebt, dass Architektur mehr ist, als Mauern und ein Dach zu bauen, sondern dass Architektur Sinn stiften, einen Ort der Begegnung und ein Zuhause für Menschen schaffen kann – er hat seine Bestimmung gefunden.
Architektonisch hat das Schafstall-Projekt nichts mit seinem weiteren Werdegang zu tun. Allerdings, so sagt er heute, habe ihm diese Arbeit gezeigt, dass eine kreative, spirituelle Freiheit, eine „Beweglichkeit”,
wie er es nennt, Voraussetzung dafür ist, Projekte neu und anders zu gestalten – immer mit dem Menschen im Mittelpunkt. In vielen Bau-Projekten wie Waldorfschulen, Altersheimen oder einer Kirche für die Christengemeinschaft wird er dieser Bestimmung nachkommen. Bis das Schicksal ihn mit der Grell-Stiftung verbindet. Der Beginn eines gewaltigen Projekts, an dessen Ende das Tobias-Haus stehen wird.